von Vera Gehlen-Baum

Vera Gehlen-BaumDie equeo GmbH lädt in loser Folge Partner und Experten aus ihrem Netzwerk als Gastautoren ein.

Vera Gehlen-Baum ist Doktorandin an der LMU in München. Sie beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit dem Einsatz von mobilen Geräten in der Lehre und wie verschiedene Lernarrangements mithilfe von Technologien unterstütztwerden können.

In einer Vielzahl von Lernszenarien bekommen Lernende neue Inhalte vermittelt, ohne dass auf ihre individuellen Bedürfnisse oder ihr Vorwissen eingegangen wird. Adaptives Lernen mit technologischer Unterstützung soll hier Abhilfe schaffen.

Als Musterbeispiel der einseitigen Wissensvermittlung kann sicherlich der Vortrag gelten, in der ein Vortragender neue Inhalte einer – manchmal nur durch die Raumgröße begrenzten – Menge an Zuhörern vermittelt. Aber auch in kleineren Lehrveranstaltungen, zum Beispiel Schulungen, Workshops oder Seminaren, nehmen viele Lehrende die Gelegenheit wahr, ihr antrainiertes Wissen über den Teilnehmern auszuschütten. Dabei nutzen viele Lehrende die Inhalte als eine Art Fixstern, an dem sie die gesamte Lehre und vor allem die Übungsmöglichkeiten ausrichten. Lernende geraten so mit ihren Präferenzen, Interessen und ihrem Vorwissen leicht in den Hintergrund. Wichtig scheint, dass das Curriculum erfüllt und das vorgenommene Stoffpensum geschafft wird.

Wie wäre es aber, wenn man Lernende ihre Lernziele selbst bestimmen ließe? Wenn man die Bedürfnisse des Einzelnen in den Vordergrund stellt und bereits vorhandene Fähigkeiten aufgreift und weiterentwickelt? Wenn man die Fähigkeiten und das Lernen dann unterstützt, wenn sich die Möglichkeit dazu bietet und nicht wenn man einen Raum gebucht hat?!Diese Anforderungen, die heute immer mehr an modernes Lernen gestellt werden, können mithilfe von adaptiven Lernszenarien erfüllt werden. Sie können auf unterschiedliche Weise umgesetzt werden und somit verschiedene Aufgaben erfüllen. Da eine Vielzahl von Voraussetzungen, zum Beispiel genaue Kenntnis über Lernziele, aktuellen Wissenstand und Kompetenzen der Lernenden, berücksichtigt werden sollten, wird adaptives Lernen in den meisten Fällen durch den Einsatz von, speziell hierfür entwickelter, Lernsoftware unterstützt. Adaptive Lernsoftware wertet bereits erfasste Daten aus, um dem Lernenden im passenden Moment die richtigen Inhalte und Instruktionen zur Verfügung zu stellen.

Im Folgenden soll anhand von Beispielen aufgezeigt werden, wie sich die drei Anforderungen an adaptives Lernen – selbständiges Bestimmen von Lernzielen, adäquater Umgang mit Vorwissen und Wissenserwerb und der zielgerichtete Einsatz von erworbenen Kompetenzen in bekannten und neuen Situationen – in einer Lernumgebung umsetzen lassen. Idealerweise sollen die einzelnen Komponenten in einer Lernumgebung verbunden sein, um eine möglichst umfassende Unterstützung bieten zu können.

Lernziele

Häufig ist Lernenden nicht immer klar, was sie mit Hilfe eines Workshops oder einer Schulung für sich selbst erreichen möchten. Vor allem dann, wenn der Personalvorgesetzte eigene, vielleicht mit denen des Lernenden kollidierende Ziele erreichen möchte, wie zum Beispiel das Erlernen des Umgangs mit einem Tool, das vom Lernenden als nicht sinnvoll eingestuft wird. Ein sogenanntes E-Portfolio, in dem der Lernende seine aktuellen Kompetenzen, aber vor allem auch Ziele und bereits erreichte Zwischenziele festhält, kann helfen, sich über seine eigenen Bedürfnisse klarer zu werden.

Während in einem Bank-Portfolio verschiedene Wertpapiere gesammelt werden, soll ein E-Portfolio den Wissenstand und die Kompetenzen des Besitzers abbilden. Dabei ermöglichen E-Portfolios einen schnellen und strukturierten Überblick über die bereits erreichten Fähigkeiten des Einzelnen, beziehungsweise welche Ziele noch erreicht werden sollen. Dies wiederum erleichtert auch die Messbarmachung der zu erreichenden Ziele.

Vorwissen und Wissenserwerb

Vorwissen ist ein wichtiger Prädiktor für den Lernerfolg. Die regelmäßige Abfrage von bereits vorhandenem Wissen oder dem zuletzt Gelernten kann helfen, neue Methoden und Inhalte zu verinnerlichen und dadurch anwenden zu können. Je genauer der aktuelle Wissenstand des Lernenden ermittelt werden kann, desto genauer können ihm auch Aufgaben, Probleme aus der Praxis, Lehrvideos oder Podcasts zur Verfügung gestellt werden. Häufig wird das Wissen durch einen initialen Wissenstest abgefragt. Dadurch kann jedoch nur der Wissenstand zu einem bestimmten Zeitpunkt erfasst werden.

Mithilfe von Beacons, die beispielsweise in der Kaffeeküche oder im Aufzug angebracht werden, können den Lernenden auch während oder nach einem Lernprozess verschiedene Aufgaben als Push auf ihr Smartphone zur Verfügung gestellt bekommen. Diese können zum Beispiel inhaltlicher Natur („Weißt du noch, wie eine Lösung zu der Frage xy aussehen könnte?“) oder kollaborativer Natur („Tausche dich mit deiner Kollegin darüber aus wie gut ihr die gelernte Kompetenz anwenden konntet.“) sein und dafür genutzt werden, herauszufinden, an welcher Stelle der Lernende noch Defizite ausweist oder wo er sich weiter spezialisieren möchte.

Situationsbezogener Einsatz von Kompetenzen

Die Anwendung von neuem Wissen oder neuen Kompetenzen soll den Lernenden helfen, das Wissen in die Praxis zu bringen und so träges Wissen zu vermeiden. Wenn man davon ausgeht, dass viele Schulungen, die ein Mitarbeiter erhält, in Verbindung zu seinem Beruf stehen, sollten sich immer wieder Anwendungen finden lassen. Die Integration des Terminkalenders oder das Führen eines Lerntagebuches ermöglicht es dem adaptiven Lernsystem, den Lernenden auf solche Situationen aufmerksam zu machen. So kann es zum Beispiel einem Personalverantwortlichem, der gerade eine Führungsschulung absolviert hat, vor einem Mitarbeitergespräch nochmals einen Überblick über die wichtigsten bisher gelernten Lektionen zukommen zu lassen. Das soll ihn an dieses Wissen erinnern und ihm ermöglichen, es im konkreten Fall anzuwenden.

Chancen des adaptiven Lernens

In Zeiten, in denen Smartphones, -bands und –watches zu unseren ständigen Begleitern geworden sind und Apps uns helfen sollen, uns selbst zu optimieren und unsere Zeit effizienter zu nutzen, ist für viele das adaptive Lernen der nächste logische Schritt. Adaptives Lernen soll uns helfen, Lehre besser an unseren Kenntnisstand und unsere Bedürfnisse anzupassen und so träges Wissen zu vermeiden. Ähnlich wie viele Fitness- und Health-Apps basiert adaptives Lernen auf vom Lernenden bereitgestellten Daten.

Wenn die Lernumgebung auf mehr Informationen zu unseren Zielen, Zeitplänen und aktuellem Wissenstand zurückgreifen kann, kann sie auch auf Bedürfnisse und Präferenzen zugeschnittene Lerneinheiten und Aufgaben zur Verfügung stellen. Außerdem ist eine adaptive Lernumgebung dadurch in der Lage, den Lernenden spezifisches, idealerweise an die aktuellen Erkenntnisse der Forschung angepasstes Feedback zur Verfügung zu stellen, das dem Lernenden hilft, den Ist-Stand seines Wissens besser zu erkennen und somit dem Soll-Stand näher zu kommen. Die Eingabe der Daten, das Reflektieren über Lernziele und über weitere, das eigene Lernen betreffende Aspekte, zum Beispiel Lernzeiten oder Verständnis der Inhalte, helfen dem Lernenden, das eigene selbstregulierte Lernen weiter zu fördern. So können adaptive Lernumgebungen Lernende helfen, ihre Aufmerksamkeit selbstständig auf Situationen richten, in denen sie neu erworbenes Wissen anwenden oder Wissenslücken besser identifizieren können.

Risiken des adaptiven Lernens

Während das Sammeln und Auswerten von Daten im adaptiven Lernen viele Vorteile im Hinblick auf individualisiertes Lernen mit sich bringt, gehen damit auch gewissen Risiken einher. Wenn eine Person beschließt, ein Smartband oder eine Fitness-App zu verwenden, um die eigenen sportlichen Aktivitäten zu tracken, steht dahinter meist ein persönliches Interesse – nämlich sportlicher oder schlanker zu werden. Bei vielen hier beschriebenen Lernszenarien spielt neben dem persönlichen Interesse noch das des Arbeitgebers oder des persönlichen Weiterkommens eine Rolle. Dies kann zu einer Erhöhung des empfundenen Drucks und manchmal auch zu einer Überforderung führen.

Ein weiteres Risiko, das an dieser Stelle genannt werden soll, ist die Einsicht in die große Menge an Daten durch Dritte. Wie bereits beschrieben, funktionieren adaptive Lernumgebungen besser, wenn auf Lernziele, Wissensstand und Zeitplanung möglichst ehrlich Auskunft erteilt wird. Dabei kann es passieren, dass die Lernziele des Mitarbeiters nicht mit denen des Personalverantwortlichen übereinstimmen. Wenn jedoch die Chance besteht, dass diese Differenzen offenbar werden könnten, werden viele Mitarbeiter weniger ehrliche Antworten geben, oder die Arbeit mit einer solchen Lernumgebung ganz verweigern. Wie mit der Speicherung und Analyse der Daten umgegangen werden soll, muss im Einzelfall geklärt werden, da dies von verschiedenen Faktoren abhängen kann, etwa der Unternehmensgröße oder -struktur.

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Adaptives Lernen bietet die Möglichkeit, mehr auf den Einzelnen und sein persönliches Vorankommen einzugehen, als das bei vielen traditionellen Lernszenarien bisher möglich ist. Es ermöglicht, die häufig notwendige kontinuierliche Weiterentwicklung von Lernenden systematisch und individuell aufzubauen und zu steuern. Jedoch muss im Kontext des Lernens darauf geachtet werden, dass nicht der Leistungsdruck den einzigen Maßstab für die Lernziele bildet.