Prof. Dr. Dr. Thomas Schildhauer ist unter anderem Direktor des von ihm gegründeten Institute of Electronic Business e.V. (IEB), dem größten An-Institut der Universität der Künste Berlin (UdK), Geschäftsführender Direktor des Alexander von Humboldt Instituts für Internet und Gesellschaft gGmbH (HIIG), Informatiker, Marketingexperte und Internetforscher; weiterhin Mitglied im wissenschaftlichen Rat der Plattform Industrie 4.0 und leitet außerdem das Berlin Career College, an dem die Weiterbildungsangebote der UdK gebündelt sind.

Prof. Dr. Dr. Thomas Schildhauer

Tim Kaufhold, Leiter Unternehmensentwicklung bei der equeo GmbH in Berlin, traf ihn in der vergangenen Woche zum Gespräch.

Tim Kaufhold: Herr Schildhauer, Ihr Interview in der FAZ war mit der Aussage „Der klassische Computer verschwindet“ überschrieben. Was bedeutet das für E-Learning?

Thomas Schildhauer: Für das klassische E-Learning bedeutet dies zunächst, dass bestehende Inhalte an neue Ausgabeformate angepasst werden müssen, um noch korrekt dargestellt zu werden. Neue Nutzungsgewohnheiten sind zu berücksichtigen: Menschen verbringen immer weniger Zeit am stationären PC; Smartphones und Tablets haben schon längst viele der Funktionen bisheriger PCs übernommen. Dazu kommen weitere Geräte, etwa Smart-TV und Gadgets wie die Smart Watch, die ich auch in dem von Ihnen angesprochenen Interview erwähne.

Darin liegt auch gleich die ganz große Chance: nicht jeder Mensch hatte im „PC-Zeitalter“ einen Computer zur Verfügung – ob zu Hause oder am Arbeitsplatz. Mit Smartphones und anderen mobilen Geräten sieht das ganz anders aus: fast jeder besitzt eins und, ganz wichtig, kann auch damit umgehen. Bei diesen Geräten wurde – und darin liegt auch die Wurzel des großen Erfolges – besonders an den Nutzer und seine Bedürfnisse gedacht. Gerade kleine Bildschirme erfordern eine einfache Bedienung, die Steuerung durch Berührung und Gesten erfolgt intuitiver als über Tastatur und Maus.

Für E-Learning bedeutet das also, dass wir heute schon auf ganz andere Voraussetzungen treffen als vor zehn, zwanzig Jahren. Menschen aller Altersgruppen sind im Umgang mit Technik viel erfahrener, weil diese ihnen auch ein großes Stück entgegengekommen ist, Teil ihres Lebens geworden ist, eben auch wenn sie bisher nicht zu ihrem beruflichen Alltag gehörte.

Wenn wir jetzt noch einen Blick in die greifbare Zukunft werfen: die Möglichkeiten der digitalen Selbstvermessung könnten im Kontext E-Learning ja beispielsweise auch als zusätzliche Eingabekanäle genutzt werden. Etwa wenn Sensoren die körperliche Reaktion auf eine Frage messen – Pulsbeschleunigung, Mimik, Augenbewegungen und dergleichen – und damit eine aktive Eingabe praktisch überflüssig machen oder zumindest ergänzen.

Die Bedingungen sehen also sehr gut aus. Werden wir nun eine Renaissance des E-Learning erleben?

Dies erscheint mir sehr wahrscheinlich, eben nicht nur, weil die Voraussetzungen erfüllt sind, sondern auch weil der Bedarf besteht. Durch den Wandel zur Wissensgesellschaft und eine zunehmend flexibler gewordene Wirtschaft und Arbeitswelt zählt weniger der Bildungsweg, als vielmehr lebenslanges Lernen, also kontinuierliche Fortbildung im und neben dem Berufsalltag.

Das große Thema Industrie 4.0 – die sogenannte „vierte industrielle Revolution“ – wird vielfach nur unter dem Aspekt der automatisierten Produktion, also dem „Internet der Dinge“ betrachtet. Industrie 4.0 umfasst aber auch andere, ebenso wichtige Bereiche. Dazu gehören etwa die Organisation von Zusammenarbeit und die humanorientierte Gestaltung von Arbeitsabläufen, wie auch – und damit sind wir wieder beim Thema – neue Lernsysteme. Als Indiz mag die Tatsache dienen, dass etwa ein Viertel von 17 Thesen zur Entwicklung von Industrie 4.0 diesen Bereich zum Inhalt haben. Aufgestellt wurden diese Thesen vom wissenschaftlichen Beirat der Plattform Industrie 4.0, einem interdisziplinären Professorengremium, dem auch ich angehöre. Eine der Prämissen von Industrie 4.0 ist der Wandel passiver, vorgeplanter Produktionssysteme zu selbstorganisierenden und intelligenten – „smarten“ – Produktionseinheiten. Für das Lernen bedeutet das, dass Menschen in die Lage versetzt werden müssen, ihr Wissen und ihre Kompetenzen bedarfsgerecht zu erweitern. Dafür werden Systeme gebraucht, die das Lernen beispielsweise durch einfache Verständlichkeit und intuitive Bedienbarkeit fördern.

Plattform Industrie 4.0: 17 Thesen
Plattform Industrie 4.0: 17 Thesen

Umgesetzt wird dies zweifellos über digitale Kanäle, der Renaissance des E-Learning steht also auch aus dieser Perspektive nichts entgegen – mehr noch: E-Learning steht vielmehr erst vor dem eigentlichen Durchbruch. So wie viele Erwartungen und Konzepte, die mit dem Internet von Anfang an verbunden wurden, erst nach Jahren in der Breite Fuß fassen konnten – unter dem Schlagwort „Web 2.0“, vor rund zehn Jahren.

Um in diesem Zusammenhang etwas konkreter zu werden: Können Sie ein zukünftiges Industrie-4.0-Lernszenario beschreiben?

Nun, wenn wir uns folgende Situation vorstellen: Ein Auszubildender in einer Fabrik ist mit einer defekten Maschine konfrontiert. Er hält seinen persönlichen Assistenten – das kann auch ein Smartphone sein – an die Maschine. Diese gibt ihm ihre Selbstdiagnose aus, in der sie auch seinen von ihr erkannten Auszubildendenstatus berücksichtigt. Er erhält daher die Aufforderung, den Meister zu rufen, da der Defekt von ihm allein nicht zu beheben ist. Gleichzeitig erhält er aber eine Anweisung, wie er die Abdeckklappe lösen kann, so dass er der Reparatur bereits zuarbeiten kann. Wenn der Meister dann die Maschine repariert, möglicherweise mit Hilfe seines eigenen digitalen Assistenten, kann der Auszubildende das richtige Vorgehen Schritt für Schritt verfolgen und damit erlernen. Sollte ihm solch ein Fall noch einmal begegnen, erkennt die Maschine, dass er über die erforderlichen Kenntnisse verfügt, da sie in seinem Profil hinterlegt sind.

Ist der Begriff E-Learning in solchen Zusammenhängen noch aktuell?

Prinzipiell ist er natürlich nicht falsch – gelernt wird ja immer noch mit Hilfe elektronischer Kanäle. Mit der Alltäglichwerdung digitaler Medien entfällt der Hinweis natürlich nach und nach: Mobiltelefon wird zu Telefon, digitales Fernsehen wird einfach nur zu Fernsehen.

Der auch von equeo verwendete Begriff „Smart Learning“ trifft es, denke ich, sehr gut. „Smart“ bedeutet ja, dass Produkte und Lebensbereiche mit den Möglichkeiten der digitalen Kommunikation erweitert werden – Smartphone, Smart Home, Smart Implants, Smart Production und so weiter. Nun wird diese Idee auf das Lernen übertragen, das heißt beispielsweise, dass der Kontext berücksichtigt wird, situative Faktoren – Tageszeit, muss schnell ein Problem gelöst werden oder gibt es gerade Leerlauf? Das persönliche Profil des Lernenden kann einbezogen werden, also um was für einen Lerntyp es sich handelt, welche Vorkenntnisse bereits vorhanden sind, wie aufnahmefähig er ist, seine Aufmerksamkeitsspanne… dazu passend werden Lerneinheiten geliefert. Diese kommen nicht aus einem starren System, sondern aus der Cloud, wo sie jederzeit zur Verfügung stehen und aktuell gehalten werden.

Wie können sich Unternehmen auf Smart Learning – bleiben wir bei dem Begriff – im Kontext von Industrie 4.0 vorbereiten?

Unternehmen sollten jetzt anfangen, vielleicht mit kleineren Pilotprojekten – und nicht abwarten, was noch so alles passiert. Smart Learning ist ja keine Science Fiction, E-Learning ist keine neue Idee. Wenn wir von Digital Natives sprechen, der Altersgruppe, die komplett im digitalen Zeitalter aufgewachsen ist, meinen wir die Jahrgänge ab 1980 – die also schon längst in den Unternehmen angekommen sind. Bei diesen ist es nicht mehr nötig, Überzeugungsarbeit zu leisten – im Gegenteil. Sie sind an eine Weilt gewöhnt, in der sich alles schnell ändert, kaufen sich jährlich ein neues Smartphone, haben alle paar Monate eine neue digitale Lieblingsbeschäftigung – von Facebook zu WhatsApp, Twitter, Instagram – da sind E-Mails längst schon eine Sache von vorgestern.

Sie erwarten eine „smarte“ Lernform, die ihrem Lebensgefühl entspricht, die sie verstehen, mit der sie durchaus auch im vielzitierten „War of Talents“ gewonnen werden können. Um das aber noch einmal zu betonen: auch die relativ Älteren stehen diesen Entwicklungen ja nicht fern, denn, wie bereits gesagt, eben auch die Mitarbeiter, die im Arbeitsalltag nicht am Computer sitzen, können größtenteils mit digitalen Anwendungen umgehen und können so über Smart Learning künftig auch in ihrer jeweiligen Arbeitsumgebung erreicht werden.