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Prof. Dr. rer. nat. habil. Dr. h.c. Lothar Abicht ist Geschäftsführer des isw Instituts für Strukturpolitik und Wirtschaftsförderung gGmbH, Autor von weit über hundert wissenschaftlichen Veröffentlichungen in Studien, Zeitschriften und Büchern. Seine aktuellen Arbeitsgebiete sind innovative Formen des Lehrens und Lernens in der Erwachsenenbildung und Fachkräftesicherung sowie Gestaltung von Berufsorientierung und Personal- und Organisationsentwicklung im Zeichen des demografischen Wandels.
Thomas Flum, Geschäftsführer von equeo, hatte Gelegenheit, ihn zur Zukunft der Lernformen zu befragen
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Herr Professor Abicht, Sie sind seit vielen Jahren nicht nur ein bekannter Bildungsforscher, sondern Initiator vieler Projekte, in denen innovative Methoden zum Einsatz kommen. Warum dieser Mix von Forschung und Anwendung?

Als Geschäftsführer eines privaten Forschungsinstitutes ist Projektarbeit für mich die tägliche Normalität so wie in tausenden anderen Firmen. Im Wettbewerb um Projekte ist unsere Strategie schon seit vielen Jahren, einen Vorsprung durch Innovation zu erreichen. Wir versuchen daher immer, die neuesten Ergebnisse aus der Forschung in unsere Projektarbeit von der Bewerbung bis zur Umsetzung einzubringen. Das ist aber keine Einbahnstraße. Die forschungsbasierten Projekte ermöglichen die Ableitung von wissenschaftlichen und praktischen Schlussfolgerungen, die Theorie und Praxis gleichermaßen bereichern. Ein weiterer Schritt sind die von mir verfassten Bücher, in denen ich versuche, die Erkenntnisse und Erfahrungen für ein breites Publikum aufzubereiten.

Warum ist es überhaupt wichtig, neue innovative Lernformen zu finden und zu etablieren?

Wir erleben gegenwärtig eine unglaublich schnelle und teilweise dramatische Veränderung der Arbeits- und Lebenswelt. Insbesondere die digitale Revolution und der demografische Wandel bewirken tiefgreifende Veränderungen bzw. produzieren Veränderungsnotwendigkeiten. Mit diesen Veränderungen Schritt zu halten, bedeutet ein ständiges Um- und Weiterlernen in allen Teilen der Gesellschaft. Traditionelle Lernmethoden reichen dafür nicht mehr aus.

Wenn sich die Formen des Lebens und Arbeiten verändern, müssen traditionelle und neue Lernformen gleichermaßen dazu beitragen, diesen Prozess vorzubereiten und zu flankieren. Ich plädiere also keineswegs für eine einseitige Neuorientierung sondern für einen vernünftigen Mix. Dabei ist allerdings zu beachten, dass gerade die digitale Revolution in den nächsten 10 bis 15 Jahren viele Selbstverständlichkeiten des bisherigen Umgangs mit Informationen grundsätzlich verändern wird, was auch Auswirkungen auf die Gestaltung von Lernprozessen hat.

Welche Verbindungen sehen Sie zwischen innovativen Lernformen und der Beschäftigungsfähigkeit?

Der oben genannte dramatische Wandel der Arbeitswelt erfordert eine permanente Anpassung der Kompetenzen. Diese lässt sich mit traditionellen Lernformen allein nicht gewährleisten. Notwendig sind Fähigkeiten zum selbständigen Lernen im Arbeitskontext unter Nutzung elektronischer Medien. Lernen und Arbeiten werden immer mehr verschmelzen, wenn z. B. Wissensarbeiter gezwungen sind, neues Wissen im Projektverlauf zu generieren. Dabei liegt ein Schwerpunkt in der Beherrschung der notwendigen elektronischen Medien. Der zweite Schwerpunkt bezieht sich auf die Fähigkeit, informell erworbenes Wissen so zu kontextualisieren, dass über die Einzelaufgabe hinaus eine dauerhafter Lernzuwachs erreicht wird.

Welche Bedeutung wird aus Ihrer Sicht in Zukunft situatives Lernen mit kleinen Lernbausteinen erhalten?

Situatives Lernen ist ein typischer Bestandteil von Projektarbeit. Das Lernen kann dabei entweder durch selbständige Zusammenstellung von Wissenselementen oder durch Nutzung von kleinen Lernbausteinen erfolgen. Deren Nutzung ist dann effektiv, wenn sie gut zur jeweiligen Problemsituation passen und helfen, Lösungen zu generieren. Das erfordert natürlich standardisierte Prozesse, in die solche Mikrobausteine passen. Ist das gegeben, sind die Lernbausteine wegen ihrer didaktischen Strukturierung sinnvolle Wege des Lernens.

Ein Ihrer letzten Veröffentlichungen trägt den Titel: „2025 – So arbeiten wir in der Zukunft“
Was sind für Sie die zentralen Veränderungen, die auf uns zukommen?

2025Das lässt sich in der notwendigen Kürze nur andeuten. Oben hatte ich bereits auf die Auswirkungen der digitalen Revolution und des demografischen Wandels hingewiesen. Generell geht der Trend in Richtung der Arbeit 4.0 als natürliches Gegenstück zur Industrie 4.0, deren Reichweite heute weit über die Industrie hinausgeht. Der demografische Wandel wird die Fachkräfteknappheit in bestimmten Branchen verschärfen und die Chancen umworbener Fachkräfte erhöhen, ihre eigenen Vorstellungen von einer gelungenen Verbindung von Arbeiten und Leben durchzusetzen. Das betrifft insbesondere die generelle Flexibilisierung der Arbeitswelt verbunden mit einem höheren Maß an Selbstbestimmung und Selbstorganisation. Neben das Büro treten im Rahmen des mobilen Arbeitens vielfältige Alternativen.

Traditionelle Organisationsstrukturen geraten durch Auflösung klassischer Grenzen zwischen Arbeitsbereichen sowie zu Kunden und Lieferanten zunehmend unter Druck. Grundlage dafür sind neben den Werten und Wünschen knapper Fachkräfte vor allem die zunehmenden Vernetzungsmöglichkeiten. Wichtig erscheint mir noch, dass die Veränderungen zwar durch die Generation Y wesentlich vorangetrieben werden aber alle Generationen davon betroffen sind. Das gilt insbesondere für die große Gruppe der Babyboomer, für die trotz des schrittweisen Übergangs in die Altersrente ganz neue Chancen und Möglichkeiten entstehen. Mit dieser Frage, die auch eine völlige Neubewertung der Diskussion um eine altersgerechte Arbeitswelt einschließt, beschäftigt sich u.a. mein neues, im Januar 2016 erscheinendes Buch.

Welche Chancen ergeben sich aus diesen Entwicklungen?
Welche Risiken sehen Sie?

Deutschland hat eine der ältesten Bevölkerungen der Welt und liegt, wie gerade gemeldet wurde, hinter Japan weltweit auf dem letzten Platz der Anzahl von Geburten pro 1000 Einwohnern. Wenn wir unseren Wohlstand erhalten wollen, müssen wir die Möglichkeiten der neuen Arbeit für alle am Arbeitsmarkt verfügbaren Gruppen konsequent nutzen. Wenn ich daher feststelle, dass die neue vernetzte und selbstorganisierte Arbeit entgegen der bisherigen Diskussion eine Möglichkeit ist, gerade die Älteren länger im Arbeitsprozess zu halten und für die Jüngeren endlich eine echte Vereinbarkeit von Beruf und Familie herbeizuführen, sind das riesige Chancen. Werden sie nicht genutzt, wird Deutschland schon mittelfristig abgehängt.

Im Arbeitsprozess selbst besteht die Möglichkeit, die individuellen Wünsche, Werte und Hoffnungen der Erwerbstätigen wesentlich besser mit der Realität in Einklang zu bringen und damit Arbeit nicht nur als Erwerbsmöglichkeit  sondern auch als Bestandteil der Selbstverwirklichung zu profilieren. Es besteht aber auch die Gefahr einer totalen Überwachung und Kontrolle der digitalisierten Arbeit, der Zerstörung wichtiger Barrieren zwischen Arbeit und Freizeit und der Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen durch Formen der Automatisierung, die erst durch die total vernetzte Arbeitswelt entstehen.