Dr. André Renz leitet die Forschungsgruppe datenbasierte Geschäftsmodellinnovation am Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft in Berlin. In seiner Forschung fokussiert er die Themen Marktpotentiale und Trends im Educational Technology Sektor (EdTech), Künstliche Intelligenz und Learning Analytics in der Bildung sowie datenbasierte Geschäftsmodellinnovationen im Bildungsbereich.

Die Corona-Krise kann ein Katalysator für die Digitalisierung von Bildungsprozessen sein

Aufgrund der aktuellen Corona-Krise haben wir Dr. Renz gefragt, welche Bedeutung die Krise für die Digitalisierung an den Universitäten und Schulen in Deutschland hat.

Herr Dr. Renz, Ihre Vermutung ist, dass die Corona-Krise ein Katalysator für die Digitalisierung von Bildungsprozessen sein kann. Welche Beobachtungen bringen Sie zu dieser Aussage?

Eine große Chance sehe ich darin, dass wir aufgrund der COVID-19 Auswirkungen aus unserer alltäglichen Routine treten müssen, in der wir uns oftmals nicht den Raum dafür schaffen, neue Dinge auszuprobieren. Obgleich wir uns mit der Digitalisierung der Bildung schon seit mehr als 20 Jahren beschäftigen, kann nun eine ganz neu gebotene Dynamik diesen iterativen Prozess maßgeblich beschleunigen. Die bisher zumeist optionale und supplementäre Anwendung online-basierter Lehrformate wird nun gezwungenermaßen obligatorisch und substituierend für eine Vielzahl von Bildungsdienstleistern. Das ist eine spannende Situation, die neben der Verpflichtung alternative Lernformen bereitzustellen, auch sehr viel Eigendynamik mitbringt.

So habe ich in Gesprächen mit internationalen Kooperationspartnern erfahren, dass viele Aktivitäten, die originär im öffentlichen Raum verortet sind – z.B. Yoga-Kurse, Lauftreffs oder Sprachtrainings – auf den virtuellen Raum reflektiert werden und neben neuen Geschäftsmodellen auch eine Vielfalt an Möglichkeiten der Interaktion und Partizipation bieten. Auch in der Bildung beobachten wir dieses Phänomen des Ausprobierens. Berührungsängste, die gerade Lehrenden im Umgang mit der Digitalisierung oft zugesprochen werden, weichen einer Machermentalität. Dieses neue Verständnis über die Nutzungspotentiale von digital-basierten Lösungen kann dann durchaus die Wirkung eines Katalysators für die Digitalisierungsprozessen im Bereich Bildung und Wissenstransfer annehmen, wenn wir bereit sind proaktiv zu handeln.

Gibt es international Unterschiede? Welche Staaten gehen voran und was genau tun sie?

In Gesprächen mit Partnern aus China, Litauen, Großbritannien, aber auch aus Deutschland wurde mir berichtet, dass eine vollständige Umstellung auf Onlinelehre innerhalb von wenigen Tagen durchaus möglich ist. Unterschiede zeigen sich darin, wie konsequent die Umstellung von dem realen auf den digitalen Raum vollzogen wird. In China beispielsweise wurde zu einer flächendeckenden Umstellung des Unterrichtes angehalten. Das chinesische Bildungsministerium hat hierzu einen Leitfaden für die Durchführung von Onlinelehre herausgegeben. Und auch in den USA finden wir spannende Initiativen. So gibt es aktuell kostenfreie Kurse, die Empfehlungen für einen schnellen Umstieg auf digitales Lernen und Verhaltensmaßregeln im Umgang mit Krisen anbieten (z.B. diese Webinare: Instructional Continuity in the Face of COVID-19).

Beide Initiativen vereint, dass die Lehrenden nicht allein gelassen werden, sondern das versucht wird zentrale Ankerpunkte zu setzen. Das ist auch einer der entscheidendsten Unterschiede zu Deutschland und unserem föderalen System. Natürlich beobachten wir auch in Deutschland bei Schulen und Weiterbildungsanbietern vielversprechende Ansätze, die trotz der maximalen Einschränkungen des öffentlichen Lebens versuchen, den Lehrbetrieb weiterhin bestmöglich aufrecht zu erhalten. Das sind zumeist jedoch Insellösungen, die in der Regel aus einer starken intrinsischen Motivation der jeweiligen Institutionen bzw. des Bezirkes resultieren. So organisieren sich in diesen Tagen immer mehr Bildungsinstitutionen, um gemeinsame Strategien für Onlinelehre zu entwickeln und schnell einzuführen. Zentrale Leitlinien wurden meines Wissens dahingegen bisher nicht herausgegeben.

Welche hindernden Umstände sehen Sie in Deutschland?

Die Frage bedarf einer differenzierten Antwort. Die Möglichkeiten einer volldigitalisierten Lehre bewegen sich in Deutschland innerhalb eines dualistischen Raums zwischen totaler Ohnmacht und einer sofortigen Umsatz-/ bzw. Einsatzbereitschaft. Die Diskrepanzen sind dabei sehr komplex und von verschiedenen Faktoren getragen: ungleiche IT-Infrastruktur der Bildungseinrichtungen, Unterschiede in den Kompetenzprofilen der Lehrenden, rechtliche Rahmenbedingungen, staatliche vs. privatwirtschaftliche Institutionen. Darüber hinaus zeigen sich essentielle Unterschiede bei der Teilnehmererfassung in Learning Management Systemen (LMS) zwischen Schulen, Hochschulen und Weiterbildungseinrichtungen. Während Studierende an Hochschulen und Weiterbildungseinrichtungen in der Regel mit der Immatrikulation in einem LMS erfasst werden, muss der zeitintensive Erfassungsprozess an Schulen oftmals noch nachgeholt bzw. vervollständigt werden, bevor dann im nächsten Schritt für alle Teilnehmer Lehrinhalte oder interaktive Lehrformate bereitgestellt werden können. Das ist in der Kürze der Zeit ein entscheidendes Hindernis. Neben der Integration aller Teilnehmer erfordert es viel Engagement und ein hohes Maß an Eigeninitiative – gerade in Bezug auf die nicht kontrollierbaren Faktoren der Partizipation, wenn der Unterricht eben nicht in Präsenz erfolgt, sondern daheim und ggf. unter Aufsicht der Eltern.

Ungeachtet dessen finden wir auch in Deutschland Beispiele, die zeigen, dass Bildung flexibel auf digital-basierte Alternativen umstellbar ist. Insbesondere viele privatwirtschaftliche Anbietern von Bildungsdienstleistungen stellen aktuell ihre Angebote auf volldigitalisierte Lösungen in kürzester Zeit um, um so Marktanteile zu halten und auszuweiten, aber auch Wettbewerbsvorteile zu sichern.

Wie können positive Erfahrungen zu Tipping Points werden?

Tipping Points* treffen wir dann an, wenn ein bestimmtes Moment oder Extrem dazu führt, bestehende Strukturen und Entwicklungen essentiell auf den Prüfstand zu stellen oder diese sogar vollständig zum Erliegen bringt. In der aktuellen Corona-Krise stellt die Schließung von öffentlichen Institutionen ein solches Extrem dar. Da unser Handeln sehr stark an die jeweiligen Bedingungen unserer unmittelbaren Umwelt gekoppelt ist, kann jede Form proaktiven Agierens dazu führen, einen Tipping Point in der Entwicklung der Digitalisierung der Bildung herbeizuführen. Proaktives Handeln kann dabei für jede Institution etwas anderes bedeuten. Während die eine Schule endlich die schon lange angeschaffte Software zur Visualisierung von Tafelbildern einsetzt, probiert sich eine andere Schule in Videoaufzeichnungen mittels Laptops aus. Natürlich ist dabei nicht unerheblich, wie erfolgreich das jeweilige Ausprobieren ist. Mindestens genauso wichtig für einen echten Tipping Point ist jedoch, dass die jeweiligen Erfahrungen nachhaltig zu einem Umdenken und Handeln anregen und nicht nur zur Überbrückung einer kurzfristigen Krise dienen.

* The Tipping Point – How Little Things Can Make a Big Difference. (Malcolm Gladwell, 2000).

Was wären mögliche Schritte, die Schulen und Lehre jetzt gehen könnten bzw. sollten?

Für eine erfolgreiche Implementierung digitaler Lehrformate ist zunächst ein schneller Ausbau der IT-Infrastruktur essentiell. Mehr denn je sollte in diesem Zusammengang auch auf Erfahrungsaustausch gesetzt werden. Zentrale Plattformen für den Austausch, aber auch für die Registrierung, Auflistung und Erfassung von digitalen Lernlösungen (insbesondere Apps) nach Kriterien wie beispielsweise DSGVO konform, Disziplin, Altersempfehlungen für die Anwendungen, pädagogische Ratings etc. sind zielführende Schritte.

Darüber hinaus bedarf es mehr finanzieller Mittel für die Bereitstellung von EdTech-Beauftragten für Schulbezirke. Die bisherigen Erfahrungen haben uns gezeigt, dass eine Bereitstellung von Hard- und Software nicht ausreicht. Es bedarf einer qualifizierten Unterstützung, damit Lehrende souverän im Umgang mit digital basierten Lösungen werden, um so wiederum digitale Souveränität vermitteln zu können. Mindestens genauso wichtig sind die Akzeptanz und die Bereitschaft der Lehrenden und Lernenden, die aktuellen Abweichungen des Alltags als Chance wahrzunehmen.

Wir dürfen jetzt nicht einfach versuchen, diese Zeit nur zu überbrücken bis wir den regulären Lehrbetrieb wieder aufnehmen werden. Die Digitalisierung der Bildung ist ein iterativer Prozess, der auch nicht in Zeiten der Corona Krise abschließend vollzogen wird. Aber Bildungsinstitutionen können mit entsprechender Wachsamkeit gerade jetzt entscheidende Stellschrauben identifizieren, an denen sie für einen Wechsel von dem realen in den digitalen Raum proaktiv arbeiten sollten. Unbemerkt darf nicht bleiben, dass auch in Zukunft vollständig online-basierte Konzepte kein adäquater Ersatz für die Präsenzlehre sein wird, sondern nur temporär oder in ausgewählten Bereichen sinnvoll erscheint. Die Entwicklungen auf dem Bildungsmarkt zeigen, dass vielmehr die Implementierung ausgereifte Blended Learning Systeme die höchste Akzeptanz besitzt.

Darüber hinaus ist es mehr denn je wichtig, den Dialog mit Partnern aus der Wirtschaft und mit EdTech-Unternehmen zu suchen. Schulen, die heute als digitale Leuchtturmprojekte gelten, haben sich oft schon sehr früh Kooperationspartner gesucht, um gemeinsam mit diesen Unternehmen individuelle Lösungen für ihre Institution zu entwickeln und die Möglichkeiten digitaler Lehr- und Lernalternativen zu definieren.