Was passiert unter der Oberfläche der „Digitalisierung des Lernens“?

Die Vergangenheit und weithin auch die Gegenwart des beruflichen Lernens sind von einem zentralen Steuerungsanspruch des Unternehmens geprägt: Gerade weil Weiterbildung als essentiell verstanden wird, versuchen Firmen mit ihren Personalentwicklungsabteilungen, das Lernen ihrer Belegschaft zu planen und zu steuern, indem sie entsprechende Lernangebote entwickeln und an ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter herantragen. Personalentwicklung folgt damit der Leitvorstellung, dass die HR-Abteilung ihr Personal – der Name sagt es – entwickelt. Dem einzelnen Mitarbeiter wird dabei implizit die Rolle eines Objektes dieser unternehmens-seitigen Bemühungen (Seminare, Web-Based Trainings etc.) zugeschrieben.

So wird es nicht gehen

In dem Maße, wie zum einen immer neue Lernbedarfe im Kontext von Digitalisierung und Automatisierung entstehen und sich zum anderen mit der Umgestaltung der Arbeitswelt die Aufgaben und damit Lernbedarfe differenzieren, wird immer deutlicher, dass ein solcher zentral gesteuerter Ansatz nicht in die Lage sein wird, mit den Veränderungen Schritt zu halten: Weder kann auf diese Weise das Tempo der Veränderungen der Arbeitswelt im Lernangebot widergespiegelt werden, noch erscheint es realistisch, die entsprechenden finanziellen Ressourcen bereitzustellen, um ein immer breiteres und immer tiefergehendes Lernportfolio zu entwickeln und kontinuierlich aktuell zu halten.

Geht es auch anders?

Die Antwort auf diese Herausforderung kann nur sein, den einzelnen Mitarbeiter in die Lage zu versetzen, seine Weiterentwicklung verstärkt selbst in die Hand zu nehmen. Das ist auch insofern notwendig, als dass ein zeitgemäßes Lernverständnis von der Konstruktion von Wissen und Fähigkeiten durch den einzelnen ausgeht und dem Lerner damit die Rolle des Subjekts im Bildungsprozess zuschreibt: Der einzelne Mitarbeiter als Gestalter seiner Weiterentwicklung.

Wenn Mitarbeiter willens und in der Lage sind, diese Verantwortung zu übernehmen, können sie alle Möglichkeiten des – informellen, sozialen und formellen („70:20:10“) – Lernens in ihre Weiterentwicklung einbeziehen und sich dabei auch der immer weiter wachsenden Lernressourcen bedienen, die das Internet bietet. Damit sind sie nicht mehr darauf angewiesen, seitens des Unternehmens für alle Lernanlässe entsprechende Angebote an sie herangetragen zu finden.

From push to pull

Die Diskussion dreht sich stark um ein allzu enges Verständnis von „Digitalisierung des Lernens“: Nicht primär der Wechsel der Formate ist die eigentliche Herausforderung, sondern der Paradigmenwechsel weg von statischen, vorgegebenen Programmen („push”) hin zu im Arbeitsalltag verankertem, stark eigenverantwortlichem Lernen („pull”).

Natürlich wird es weiter auch zentral gesteuerte Lernangebote geben, z.B. zu Unternehmens-spezifischen oder Compliance-relevanten Themen. Ganz sicher werden sich aber die Gewichte zwischen den beiden Polen der Unternehmens-seitigen Steuerung einerseits und der Autonomie des einzelnen andererseits grundlegend verschieben. In der wachsenden Autonomie im Lernen spiegelt sich so auch die Verschiebung hin zu mehr Gestaltungsfreiheit und Verantwortung, die im Zuge von agilen Arbeitsweisen unsere Arbeitswelt insgesamt verändert.

Diese Veränderung ist schwierig – und zwar für beide Seiten: Unternehmen müssen lernen, den zentralen Steuerungsanspruch zu relativieren, und Mitarbeiter müssen in ihrem Lernen hineinwachsen in eine Form der Autonomie, die gleichermaßen Freiheit wie Verantwortung bedeutet.

Zukunftweisende Lernstrategien von Unternehmen schauen in diesem Sinne unter die Oberfläche der „Digitalisierung des Lernens“ und gestalten diesen wesentlich tiefergehenden Wandel.

 

Dr. Thomas Tillmann konzentriert sich als Berater auf die Unterstützung großer Konzerne in der Gestaltung zukunftweisender Formen der Aus- und Weiterbildung (www.abc-tillmann.de). Darüber hinaus ist er einer der Gründer der www.lernhacks.de, einem Toolset für „21st century learning“.

 

 

 

Unter der Überschrift „MAL VORGEDACHT“ lädt equeo Expertinnen und Experten der Branche ein, ihre Thesen und Statements zur Zukunft des Lernens und dessen Herausforderung zu formulieren.